Mittwoch, 2. März 2005

Schutz und Schirm für ein Schloss

Überdachung der Ruine Jagdschloss Platte, Wiesbaden
Auch 60 Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges findet man noch Kriegsruinen. Eine von ihnen ist das Jagdschloss Platte hoch über Wiesbaden. Seine einmalige Fernsicht über das Rheintal und den Taunus machen das Schloss zu einem beliebten Ausflugsziel und Ausgangspunkt zahlreicher Wanderwege, Mountainbike- oder Skilanglauftouren. Ein romantisches Märchenschloss ist es jedoch leider nicht: Wind und Wetter haben unausgesetzt an der ungeschützten Bausubstanz gezehrt. Dem Engagement eines Vereins ist es nun zu danken, dass die Ruine ein Glasdach erhalten hat, das sie vor den Witterungseinflüssen schützt und eine intensive Nutzung ermöglichen soll.

Architektur
1823 hatte Wilhelm Herzog zu Nassau seinen Hofbaumeister Friedrich Ludwig Schrumpf mit dem Bau eines Schlosses als Ziel herrschaftlicher Jagdgesellschaften im wildreichen Taunus beauftragt. Schrumpf entwarf ein Gebäude in der Tradition der palladianischen Villen des 16. Jahrhunderts: ein klarer, kubischer Baukörper, dessen Aufriss nach allen Seiten nahezu gleich durchgebildet ist. Eine Gliederung erhalten die zurückhaltend gestalteten Fassaden durch dreiachsige, früher flach übergiebelte Mittelrisalite. Lediglich die nach Süden blickende, talseitige Fassade wird durch die Ausbildung vollplastischer ionischer Säulen am Risalit als Schauseite hervorgehoben.
Das Innere des Gebäudeinneren wurde geprägt von der über alle Stockwerke reichenden Treppenhaus-Rotunde. Eine großzügige zweiläufige Wendeltreppe erschloss das Obergeschoss und die umliegenden Räume. Die Rotunde wurde überwölbt von einer dem Pantheon in Rom nachempfunden kassettierten Kuppel; eine verglaste Öffnung im Scheitel ließ Tageslicht ins Gebäudeinnere. Auf dem als Pyramidenstumpf ausgebildeten Dach befand sich eine Aussichts-plattform.

Geschichte
Als 1866 das Herzogtum Nassau im Königreich Preußen aufging, verblieb das Jagdschloss im Besitz der Nassauer, die 1890 durch Erbfolge Großherzöge von Luxemburg wurden. 1913 erwarb die Stadt Wiesbaden das Gebäude, worauf es unterschiedlichen Nutzungen zugeführt wurde. Aufgrund seiner reizvollen Lage blieb es ein Anziehungspunkt für das gesellschaftliche Leben. Eine gegen Ende des 2. Weltkrieges im Schloss eingerichtete Flugabwehrleitstelle wurde dem Bau schließlich zum Verhängnis: noch in den letzten Kriegstagen wurde er durch Bomben schwer getroffen und brannte aus.


Zerstörung und weiterer Verfall des Gebäudes taten jedoch der Beliebtheit der „Platte“ als Ausflugsziel keinen Abbruch. Diese führte im Jahr 1987 zur Gründung der heutigen „Stiftung Jagdschloss Platte e. V.“ mit dem Ziel eines Wiederaufbaus.
Im September 1989 konnte die Ruine gesichert und für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden: Nach Beseitigung von Schutt und Bewuchs wurden neue Decken über Keller- und Erdgeschoss betoniert, die Außenwände gefestigt und teilweise neu aufgemauert.
Historische Bauteile wie Säulen oder Reste der Sandsteintreppen wurden, soweit möglich, an ihren ursprünglichen Standorten gesichert oder wieder aufgerichtet.
Treppen, sanitäre Anlagen und Absturzsicherungen schafften die Voraussetzungen für die Nutzung der Ruine. Über mehr als zehn Jahre war der Bau in dieser Form Veranstaltungsort für Konzerte, Hochzeiten oder Ausstellungen mit außergewöhnlichem Ambiente.

Überlegungen zu Wiederaufbau und Denkmalschutz
Der weiterhin ungeschützte Zustand der Ruine erforderte regelmäßige Instandsetzungsmaßnahmen unter erheblichem Mitteleinsatz. Der Errichtung eines Daches zum Schutz vor Witterungseinflüssen kam daher Priorität zu. Mittelfristig sollte die Ruine durch Fenster-verschlüsse und haustechnische Einbauten ganzjähriger, wirtschaftlicher Nutzung zugeführt werden.

Aus denkmalpflegerischer Sicht kam der zunächst angestrebte originalgetreue Wiederaufbau nicht in Frage. Daraufhin angestellte Überlegungen, ein modernes Glasdach in der historischen Form zu verwirklichen, wurden alsbald als ausdrucksschwacher Kompromiss verworfen.
Statt dessen entwickelte der Architekt H. P. Gresser, eine Idee Prof. Gottfried Kiesows aufgreifend, ein Glasdach in eigenständiger, zeitgemäßer Architektursprache:
Vier weit über die Ruine auskragende, umgedrehte Pyramiden „beschirmen“ die verbliebene historische Bausubstanz. Ein umlaufendes Lichtband zwischen Mauerkronen und Dach erzeugt eine klare optische Trennung zwischen Alt und Neu. Der Ruinencharakter des Schlosses bleibt dabei weitgehend erhalten.
Die quadratische Geometrie der Kelche greift die kubische Architektursprache auf. Wie zufällig bilden die Verschneidungen der Pyramidenkanten mit dem Lichtband die verlorenen Risalitgiebel nach.

Planungsparameter
Ziel war, eine schwebende „Glashaut“ über das Gebäude zu ziehen, die optisch möglichst wenig durch Konstruktionselemente unterbrochen werden sollte. Der angestrebten Leichtigkeit des Tragwerks stehen jedoch vielfache Belastungen gegenüber:
Am exponierten Standort sind erhebliche Lasten aus Schnee und Wind abzutragen, unter den flügelartigen Auskragungen des Daches werden Soglasten erzeugt. Mögliche Schneesackbildungen in den Kelchen sind zu berücksichtigen. Zudem muss das Glasdach zu Reinigungszwecken begehbar sein, was zusätzliche Sicherungseinrichtungen erfordert.
Die Entscheidung fiel auf ein Stahltragwerk mit oberseitig montierten, punktgelagerten Scheiben. Auf Grundlage aufwändiger Tragfähigkeits-versuche wurde die bauaufsichtliche Zustimmung im Einzelfall erwirkt.

Die Konstruktion des gläsernen Daches
Die Tragelemente der Glaseindeckung wurden als schlanke Flachstahlträger ausgebildet. Sorgfältige Stabilitätsuntersuchungen waren durchzuführen, um die kippgefährdeten Profile nachzuweisen. Glasscheiben und Verfugung wurden in Versuchen auf die Verformungen der Tragkonstruktion unter Lasten und Temperatur-veränderungen abgestimmt.
Die Dachlasten werden über die Außenwände und im Gebäudeinneren über „Fischbauchträger“ abgetragen. Um das Erscheinungsbild der Tragkonstruktion zu strukturieren und die Achsen der Mittelrisalite zu betonen, wurden sie als Vollwandträger ausgeführt.

Die Entwässerung des Daches erfolgt über die Tiefpunkte der Kelche. In den vier Zentralstützen unter den Kelchen sind jeweils zwei Entwässerungsrohre angeordnet. Ein Rohr dient als Notüberlauf im Falle einer Verstopfung des Einlaufes. Einläufe und „Kehlrinnen“ auf dem Dach können beheizt werden, um auch in kritischen Temperaturbereichen oder bei Schneeansammlungen ein einwandfreies Ablaufen des Wassers sicher zu stellen.

Das bauphysikalische Verhalten des Gebäudes unter der großen Glasfläche wurde durch Klimasimulationsberechnungen ermittelt. Die Verwendung speziell beschichteter Glasscheiben gewährleistet ein behagliches Raumklima im Gebäude auch bei intensiver Sonneneinstrahlung. Unterstützt wird die Klimatisierung durch ausstellbare Lamellenverglasungen im vertikalen Lichtband, die eine natürliche Querbelüftung unterhalb der Glasebene ermöglichen. Die Stahlrippen durchdringen das Lichtband ohne thermische Trennung. Zur Vermeidung von Kondenswasseranfall ist auf der Mauerkrone ca. einen Meter unterhalb der Durchdringungspunkte ein Heizungsrohr geführt.

Montage des Daches
Nach intensiver Vorplanung wurde im Sommer 2003 mit dem Bau des Daches begonnen. Einzelne Bauelemente wurden am Boden vormontiert und durch einen Autokran in Position gehoben.
Nach Montage der Stahlkonstruktion wurde mit einem Drahtnetz in Glasebene und Bohrungsachsen die Lage der Glashalter eingemessen und kontrolliert. Trotz großer Sorgfalt bei Herstellung, Montage und Ausrichtung der Konstruktion wurden örtlich Unterfütterungen der Glashalterungen erforderlich, um die Ebenheit der Scheiben und der Gesamtflächen zu gewährleisten.
Anschließend wurden die für jede Position individuell angefertigten Glasscheiben montiert und 2004 schließlich die Verfugung durchgeführt.

Ausblick
Weitere geplante Bauabschnitte sehen den Ausbau der Ruine vor. Nach Austrocknung der jahrzehntelang bewitterten Mauern und Sandsteinelemente werden diese saniert und instandgesetzt. Durch Einbau von Fenstern und Türen wird eine dichte Gebäudehülle geschaffen. An der Innenseite der talseitigen Wand wird eine öffentlich zugängliche Aussichtsplattform entstehen, die den weiten Blick über Baumkronen hinweg freigibt.
So wurde mit einer kühnen Ingenieurkonstruktion der erste Schritt zur Erhaltung eines Denkmals getan, und zugleich eine einzigartige Landschaft ihren Bewohnern wieder näher gebracht.


Autoren: Erik Ahrens, an
Bildrechte: Erik Ahrens

Mittwoch, 2. Februar 2005

Posthum: Interview mit Prof. Walter Haas

Im Jahre 2001 habe ich mit Professor Dr.-Ing. Walter Haas, meinem Lehrer für Baugeschichte an der Technischen Universität Darmstadt, ein Interview geführt und auf meiner damaligen Website www.denkmal-dialog.de veröffentlicht.

Anlässlich seines Todes am 16. Januar 2005 möchte ich das Gespräch hier noch einmal wiedergeben.

dd: Wenn Sie den typischen Berufsweg des Architekten betrachten, fühlen Sie sich dann eher als Architekt oder als Bauhistoriker?
Haas: Ich sehe darin im Grunde keinen Gegensatz. Und zwar deshalb, weil der Bauforscher nur Bauforscher sein kann, wenn er Architekt ist. Andererseits, wenn Sie das Architektsein mit dem Bauen, dem Entwerfen und Ausführen von Bauten gleichsetzen, dann gilt, was ich immer behaupte: Ich habe Architektur studiert, um kein Architekt zu werden.

dd: Sie haben also schon mit dem festen Vorsatz studiert, nicht zu bauen?
Haas: Der Anlaß, Architektur zu studieren war das Interesse an historischer Architektur, und dabei eben nicht mit der Frage, "Was mache ich daraus?", sondern mit der Frage: "Warum ist das so?" Und das ist der entscheidende Unterschied zwischen dem bauenden Architekten, den es immer in den Fingern kribbelt, und mir, der ich immer von dem ausgehe, was ich vorfinde und dazu die Frage stelle, "Wie ist das eigentlich zustande gekommen?" Allerdings ist die baugeschichtliche Betrachtungsweise im Gegensatz zur kunstgeschichtlichen die mit den Augen und der Denkweise des Architekten. Und die ist wieder anders als die des Kunsthistorikers, der in der Regel zuerst Form und manchmal auch Struktur, aber in aller Regel eben nicht Konstruktion sieht und sich weniger für Dispositionen interessiert.

dd: Ist für Sie Bauforschung also zu allererst Gefügeforschung bzw. der Versuch, bauliche Struktur zu verstehen?
Haas: Es sind eine ganze Reihe von Fragen, die man sich stellt. Die erste ist: "Wie ist der Bau zustande gekommen? Was sind die Voraussetzungen, daß ein solcher Bau überhaupt entsteht?" Dann die Frage: "Wie ist der Bauverlauf, also der reine Arbeitsvorgang?" Darüber kommt man natürlich auf den Entwurfsvorgang: "Welche Vorgaben hatte der Architekt, was brachte er selbst an Erfahrungen mit?" In der bloßen Frage: "Wie ist ein Bau zustande gekommen?" steckt schon wieder ein ganzer Fächer von Einzelfragen. Das zweite ist: "Wofür ist der Bau errichtet worden?" Das ist die Frage nach dem Bauprogramm, und daran schließt sich eng die Frage nach der Benutzung eines Baus an. Das sind alles Betrachtungsweisen, die dazugehören; das Baugefüge ist ein Element davon.

dd: Man hat also eine Aufgabe, und aus dieser kristallisieren sich Fragestellungen heraus?
Haas: So ist es mir häufig ergangen. Wenn man natürlich so etwas schon einmal gemacht hat, geht man an den nächsten Bau mit älteren Fragestellungen und Erfahrungen heran, plötzlich fällt einem an einem anderen Bau etwas auf, das eine Frage beantwortet, die früher offen geblieben war.

dd: Kunsthistoriker und andere, die an einem solchen Vorhaben beteiligt sind, haben natürlich ganz andere Fragestellungen an den Bau. Wie verständigt man sich da?
Haas: Hans-Erich Kubach, der Kunsthistoriker, mit dem ich bei der Bauaufnahme des Speyerer Doms zusammenarbeitete, war außerordentlich kooperativ, und überhaupt nicht daran interessiert, irgend etwas an sich zu ziehen, obwohl ihn das, was ich da getrieben habe, heftig interessiert hat. Kubach hat mir große Teile der Ausarbeitung überlassen, weil sich das eben ergeben hat. Jeder von uns hat stets das Seine zur Zusammenarbeit beigetragen: Wenn beispielsweise einer mit einer These zur Klärung eines Befundes kam, hat der andere automatisch alle Gegenargumente zusammengekratzt, und man hat darüber so lange geredet, bis man einigermaßen sicher war, daß jetzt alle möglichen Fehlerquellen ausgeschaltet waren. Das funktionierte ausgezeichnet.

dd: Wie funktionierte die Zusammenarbeit mit Handwerkern?
Haas: Diese Frage betrifft jetzt die praktische Denkmalpflege. Hierzu wieder zwei Beispiele:Eine Turmkapelle in einem Dom, der restauriert wurde. Der Putz war an vielen Stellen offensichtlich locker und teilweise auch schon abgefallen. Ich sagte, was locker ist, kommt weg, aber im übrigen lassen wir den Putz da und ergänzen ihn. Als ich einige Tage später wieder hinkam, mußte ich feststellen, daß man die Probe, was locker und was noch fest war, mit dem Preßlufthammer gemacht hatte. Da war also ein - meinem Eindruck nach - einsichtiger und gut ausgebildeter Polier, der überhaupt nicht kapiert hatte, worauf es ankommt. In einem anderen Fall wurde ich in eine Kirche gerufen, wo der Fußboden erneuert werden sollte, wobei Mauerreste unter dem Fußboden zum Vorschein kamen. Ich bat darum, mir jemand zum Bandmaßhalten abzuordnen. Der Polier gab mir einen Jugoslawen, der erst seit zwei Tagen auf der Baustelle war und kein Deutsch sprach. Ich habe ihm mit Gesten klargemacht, um was es mir ging. Dann bin ich weggegangen, um zu Mittag zu essen. Es dauerte länger als die halbe Stunde der Mittagspause auf der Baustelle, und als ich wiederkam, hatte der Jugoslawe sämtliche Mauerflächen in ausgezeichneter Weise mit dem Besen herauspräpariert. Das war der Fall eines "unbrauchbaren" Hilfsarbeiters, der sich beim näheren Zusehen als überaus verständig erwiesen hat. Die Zusammenarbeit ist also nicht vom Ausbildungsstand derer abhängig, mit denen man zu tun hat.

dd: Haben Sie selbst Gebäude auch einmal auf ihr Potential hin untersuchen, also sich der Frage einer Umnutzung stellen müssen?
Haas: Ja, solche Fragestellungen hat es gegeben. Wir haben aber nur wenige Untersuchungen gemacht, die dann jeweils ein wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TH Darmstadt federführend übernommen hat. Ich denke zum Beispiel an das romanische Haus in Seligenstadt, ein Wohnhaus, von dem man nicht allzu viel wußte. Es hat sich im Laufe der Untersuchungen als ein in fast allen Einzelheiten erkennbarer romanischer Bauteil einer mehrteiligen Anlage herausgeschält. Da stellte sich die Frage, was man mit diesem Gebäude machen kann, das durch seine günstige Lage im Gesamtkomplex des Rathauses von Seligenstadt nun auch vom Rathaus mitgenutzt wird. Ich bin jetzt längere Zeit nicht mehr dagewesen und kann nicht sagen, wie sich das bewährt hat.

dd: Das sind natürlich die Punkte, wo man als Denkmalpfleger mit Nutzungsansprüchen des Bauherren einerseits und mit Ideen und Vorstellungen des Architekten andererseits konfrontiert wird...
Haas: Da sind wir an dem Unterschied der Denk- und Vorgehensweise des Architekten und des Denkmalpflegers. Der Architekt fragt in solchen Fällen: "Was will ich?" und der Denkmalpfleger fragt: "Was will der Bau?"

dd: Ist das tatsächlich die Frage, die der Architekt stellt oder stellen darf: Was will ich?
Haas: Ich habe öfter erlebt, daß Architekten mit fertigen Vorstellungen an die Dinge herangegangen sind und dann durch Befunde nur schwer davon abzubringen waren. Ich erinnere mich aber an einige Fälle, wo man dann über solche Dinge diskutiert hat und es durchaus möglich war, daß der Architekt mehr auf das Gebäude eingegangen ist als er ursprünglich vorhatte. Übrigens gab es auch bei Ingenieuren solche "Fälle", wo zunächst einmal schon alles klar und entschieden schien, und bei näherem Zusehen und Durchdenken und Durchsprechen der Anforderungen doch noch Wege gefunden wurden, mehr von der Bausubstanz zu erhalten, als es zunächst möglich schien.

dd: Haben Sie das Gefühl, daß man, wenn man aus der Uni herauskommt, für viele Aufgaben, die sich heute beim Bauen im Bestand stellen, überhaupt gewappnet ist?
Haas: Mir fällt ein Kollege ein, ein arbeitsloser Architekt, der als ABM-Kraft an die bayerische Denkmalpflege geschickt wurde. Ich hörte, es sei das hölzerne Dachwerk eines Kirchturms freigelegt, es sei eingerüstet und zugänglich. Ich kannte den Mann nicht, ich wußte nur, der ist neu und wohnt in der Nähe. Ich habe ihn also hingeschickt und gebeten, er möge so viel wie möglich von diesem Dachstuhl aufnehmen. Tags darauf kam er und erzählte, das sei eine merkwürdige Konstruktion. Es gebe da Hölzer, die so, und andere, die ganz anders verbunden seien. Dann erklärte er mir, ohne das Phänomen und die Fachausdrücke dafür zu kennen, den Unterschied zwischen Zapfen- und Blattverbindungen. Er hatte auch gesehen, daß in die Balken irgendwelche Kerben eingeschnitten waren. Er hat registriert, wo sie waren, und wie sie aussahen. Kurzum, er hat, ohne die geringste Ahnung zu haben, was er eigentlich tut, eine komplette Bauuntersuchung dieses Turmhelms vorgelegt. Der Kollege hat während seines ganzen Architekturstudiums nichts über historische Holzkonstruktionen erfahren, aber er hatte Augen im Kopf und die Fähigkeit, Spuren von Arbeitsvorgängen zu lesen. Er hat übrigens bald eine Dauerstelle bei der Denkmalpflege bekommen.

dd: Was muß Ihrer Meinung nach ein Architekt über bauhistorische Inhalte und Methoden wissen, um fachgerecht mit der Substanz umgehen zu können? Was kann er sich an Wissen und Kompetenz sozusagen zukaufen?
Haas: Da kommen wir an einen schwierigen Punkt. Das ist nämlich die Qualifikation, die man sich erwerben kann. Die Ausbildung zum Denkmalpfleger findet nicht im Hörsaal statt, sondern am Denkmal. Das Hören auf das Denkmal, das Hinschauen und das Mitdenken muß man am Objekt lernen. Und wenn man das an einem Objekt gelernt hat, dann kann man es am nächsten weiterentwickeln und vertiefen und kann auch schon mit einem gewissen Vorsprung an Erkenntnis drangehen. Die Tätigkeit im Hörsaal - und ich spreche auch von meiner eigenen - ist allenfalls eine Ergänzung und ein Neugierigmachen. Wenn man einen Zuhörer dazu bringt, bei nächster Gelegenheit eine Frage zu stellen, die er sonst nicht gestellt hätte, dann ist das etwas, was man als Lehrerfolg erhoffen kann.

dd: Was bringen dann eigentlich Aufbaustudiengänge, die sich auf die Fahnen heften, in zwei Semestern eine Qualifikation zu liefern, die man Bauherren oder Einrichtungen wie den Landesdenkmalämtern vorlegen kann?
Haas: Alles hängt daran, wieviel man mit den Objekten selbst zu tun bekommt. Ein Zertifikat sagt im Grunde das nicht, was es sagen sollte, nämlich daß der damit Behaftete tatsächlich wesentlich tiefere Kenntnisse hat als ein anderer. Nur wenn jemand einige Jahre lang praktisch tätig war, angeleitet wurde, experimentieren konnte und die mehr oder weniger alltäglichen Arbeiten getan hat, kann man von einer Qualifikation sprechen, die zu selbständiger Tätigkeit befähigt.

dd: Die Landesämter sind andererseits gar nicht befugt, Empfehlungen auszusprechen. Selbst wenn sie einen wirklich qualifizierten Architekten kennen, können sie diesen nicht mit einem hilfesuchenden Bauherrn zusammenbringen.
Haas: Da gibt es ganz erhebliche Schwierigkeiten. Selbstverständlich wird man - muß man - die richtigen Leute an die richtige Stelle bringen. Die Vorschrift, daß man da keine Empfehlungen geben darf, hat ihre Berechtigung, weil die Gefahr, daß man Vetternwirtschaft betreibt, durchaus gegeben ist. Trotzdem ist es schließlich das Ziel, daß die Arbeiten richtig gemacht werden. Also sollte man die Vorschriften darauf ansehen, ob sie für die Sache geeignet sind. Das sind sie in vielen Einzelfällen eben nicht, und dann muß man sehen, wie man an diesen Vorschriften vorbeikommt. Hierzu kann es Wege geben, die gar nicht illegal sind. Das hat auch etwas mit Mut zu tun.

Lebenslauf
Walter Haas, geboren 1928 in Nürnberg
Abitur 1947
Architekturstudium an der TU Stuttgart
1955 Diplom, 1958 Regierungsbaumeister in Stuttgart
1958-61 Bauaufnahme am Dom in Speyer für das Landesamt für Denkmalpflege Rhld.-Pfalz
Promotion zum Dr.-Ing. an der Universität Braunschweig
1961-78 am Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege als Bauforschungsreferent
1978-95 Professor für Baugeschichte an der TH Darmstadt. Emeritierung 1995
Seit 1997 Honorarprofessor für Baugeschichte und Denkmalpflege an der Universität München
Verstorben im Januar 2005