Überdachung der Ruine Jagdschloss Platte, Wiesbaden
Auch 60 Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges findet man noch Kriegsruinen. Eine von ihnen ist das Jagdschloss Platte hoch über Wiesbaden. Seine einmalige Fernsicht über das Rheintal und den Taunus machen das Schloss zu einem beliebten Ausflugsziel und Ausgangspunkt zahlreicher Wanderwege, Mountainbike- oder Skilanglauftouren. Ein romantisches Märchenschloss ist es jedoch leider nicht: Wind und Wetter haben unausgesetzt an der ungeschützten Bausubstanz gezehrt. Dem Engagement eines Vereins ist es nun zu danken, dass die Ruine ein Glasdach erhalten hat, das sie vor den Witterungseinflüssen schützt und eine intensive Nutzung ermöglichen soll.
Architektur
1823 hatte Wilhelm Herzog zu Nassau seinen Hofbaumeister Friedrich Ludwig Schrumpf mit dem Bau eines Schlosses als Ziel herrschaftlicher Jagdgesellschaften im wildreichen Taunus beauftragt. Schrumpf entwarf ein Gebäude in der Tradition der palladianischen Villen des 16. Jahrhunderts: ein klarer, kubischer Baukörper, dessen Aufriss nach allen Seiten nahezu gleich durchgebildet ist. Eine Gliederung erhalten die zurückhaltend gestalteten Fassaden durch dreiachsige, früher flach übergiebelte Mittelrisalite. Lediglich die nach Süden blickende, talseitige Fassade wird durch die Ausbildung vollplastischer ionischer Säulen am Risalit als Schauseite hervorgehoben.
Das Innere des Gebäudeinneren wurde geprägt von der über alle Stockwerke reichenden Treppenhaus-Rotunde. Eine großzügige zweiläufige Wendeltreppe erschloss das Obergeschoss und die umliegenden Räume. Die Rotunde wurde überwölbt von einer dem Pantheon in Rom nachempfunden kassettierten Kuppel; eine verglaste Öffnung im Scheitel ließ Tageslicht ins Gebäudeinnere. Auf dem als Pyramidenstumpf ausgebildeten Dach befand sich eine Aussichts-plattform.
Geschichte
Als 1866 das Herzogtum Nassau im Königreich Preußen aufging, verblieb das Jagdschloss im Besitz der Nassauer, die 1890 durch Erbfolge Großherzöge von Luxemburg wurden. 1913 erwarb die Stadt Wiesbaden das Gebäude, worauf es unterschiedlichen Nutzungen zugeführt wurde. Aufgrund seiner reizvollen Lage blieb es ein Anziehungspunkt für das gesellschaftliche Leben. Eine gegen Ende des 2. Weltkrieges im Schloss eingerichtete Flugabwehrleitstelle wurde dem Bau schließlich zum Verhängnis: noch in den letzten Kriegstagen wurde er durch Bomben schwer getroffen und brannte aus.
Im September 1989 konnte die Ruine gesichert und für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden: Nach Beseitigung von Schutt und Bewuchs wurden neue Decken über Keller- und Erdgeschoss betoniert, die Außenwände gefestigt und teilweise neu aufgemauert.
Historische Bauteile wie Säulen oder Reste der Sandsteintreppen wurden, soweit möglich, an ihren ursprünglichen Standorten gesichert oder wieder aufgerichtet.
Treppen, sanitäre Anlagen und Absturzsicherungen schafften die Voraussetzungen für die Nutzung der Ruine. Über mehr als zehn Jahre war der Bau in dieser Form Veranstaltungsort für Konzerte, Hochzeiten oder Ausstellungen mit außergewöhnlichem Ambiente.
Überlegungen zu Wiederaufbau und Denkmalschutz
Der weiterhin ungeschützte Zustand der Ruine erforderte regelmäßige Instandsetzungsmaßnahmen unter erheblichem Mitteleinsatz. Der Errichtung eines Daches zum Schutz vor Witterungseinflüssen kam daher Priorität zu. Mittelfristig sollte die Ruine durch Fenster-verschlüsse und haustechnische Einbauten ganzjähriger, wirtschaftlicher Nutzung zugeführt werden.
Aus denkmalpflegerischer Sicht kam der zunächst angestrebte originalgetreue Wiederaufbau nicht in Frage. Daraufhin angestellte Überlegungen, ein modernes Glasdach in der historischen Form zu verwirklichen, wurden alsbald als ausdrucksschwacher Kompromiss verworfen.
Statt dessen entwickelte der Architekt H. P. Gresser, eine Idee Prof. Gottfried Kiesows aufgreifend, ein Glasdach in eigenständiger, zeitgemäßer Architektursprache:
Vier weit über die Ruine auskragende, umgedrehte Pyramiden „beschirmen“ die verbliebene historische Bausubstanz. Ein umlaufendes Lichtband zwischen Mauerkronen und Dach erzeugt eine klare optische Trennung zwischen Alt und Neu. Der Ruinencharakter des Schlosses bleibt dabei weitgehend erhalten.
Die quadratische Geometrie der Kelche greift die kubische Architektursprache auf. Wie zufällig bilden die Verschneidungen der Pyramidenkanten mit dem Lichtband die verlorenen Risalitgiebel nach.
Planungsparameter
Ziel war, eine schwebende „Glashaut“ über das Gebäude zu ziehen, die optisch möglichst wenig durch Konstruktionselemente unterbrochen werden sollte. Der angestrebten Leichtigkeit des Tragwerks stehen jedoch vielfache Belastungen gegenüber:
Am exponierten Standort sind erhebliche Lasten aus Schnee und Wind abzutragen, unter den flügelartigen Auskragungen des Daches werden Soglasten erzeugt. Mögliche Schneesackbildungen in den Kelchen sind zu berücksichtigen. Zudem muss das Glasdach zu Reinigungszwecken begehbar sein, was zusätzliche Sicherungseinrichtungen erfordert.
Die Entscheidung fiel auf ein Stahltragwerk mit oberseitig montierten, punktgelagerten Scheiben. Auf Grundlage aufwändiger Tragfähigkeits-versuche wurde die bauaufsichtliche Zustimmung im Einzelfall erwirkt.
Die Konstruktion des gläsernen Daches
Die Tragelemente der Glaseindeckung wurden als schlanke Flachstahlträger ausgebildet. Sorgfältige Stabilitätsuntersuchungen waren durchzuführen, um die kippgefährdeten Profile nachzuweisen. Glasscheiben und Verfugung wurden in Versuchen auf die Verformungen der Tragkonstruktion unter Lasten und Temperatur-veränderungen abgestimmt.
Die Dachlasten werden über die Außenwände und im Gebäudeinneren über „Fischbauchträger“ abgetragen. Um das Erscheinungsbild der Tragkonstruktion zu strukturieren und die Achsen der Mittelrisalite zu betonen, wurden sie als Vollwandträger ausgeführt.
Die Entwässerung des Daches erfolgt über die Tiefpunkte der Kelche. In den vier Zentralstützen unter den Kelchen sind jeweils zwei Entwässerungsrohre angeordnet. Ein Rohr dient als Notüberlauf im Falle einer Verstopfung des Einlaufes. Einläufe und „Kehlrinnen“ auf dem Dach können beheizt werden, um auch in kritischen Temperaturbereichen oder bei Schneeansammlungen ein einwandfreies Ablaufen des Wassers sicher zu stellen.
Das bauphysikalische Verhalten des Gebäudes unter der großen Glasfläche wurde durch Klimasimulationsberechnungen ermittelt. Die Verwendung speziell beschichteter Glasscheiben gewährleistet ein behagliches Raumklima im Gebäude auch bei intensiver Sonneneinstrahlung. Unterstützt wird die Klimatisierung durch ausstellbare Lamellenverglasungen im vertikalen Lichtband, die eine natürliche Querbelüftung unterhalb der Glasebene ermöglichen. Die Stahlrippen durchdringen das Lichtband ohne thermische Trennung. Zur Vermeidung von Kondenswasseranfall ist auf der Mauerkrone ca. einen Meter unterhalb der Durchdringungspunkte ein Heizungsrohr geführt.
Montage des Daches
Nach intensiver Vorplanung wurde im Sommer 2003 mit dem Bau des Daches begonnen. Einzelne Bauelemente wurden am Boden vormontiert und durch einen Autokran in Position gehoben.
Nach Montage der Stahlkonstruktion wurde mit einem Drahtnetz in Glasebene und Bohrungsachsen die Lage der Glashalter eingemessen und kontrolliert. Trotz großer Sorgfalt bei Herstellung, Montage und Ausrichtung der Konstruktion wurden örtlich Unterfütterungen der Glashalterungen erforderlich, um die Ebenheit der Scheiben und der Gesamtflächen zu gewährleisten.
Anschließend wurden die für jede Position individuell angefertigten Glasscheiben montiert und 2004 schließlich die Verfugung durchgeführt.
Ausblick
Weitere geplante Bauabschnitte sehen den Ausbau der Ruine vor. Nach Austrocknung der jahrzehntelang bewitterten Mauern und Sandsteinelemente werden diese saniert und instandgesetzt. Durch Einbau von Fenstern und Türen wird eine dichte Gebäudehülle geschaffen. An der Innenseite der talseitigen Wand wird eine öffentlich zugängliche Aussichtsplattform entstehen, die den weiten Blick über Baumkronen hinweg freigibt.
So wurde mit einer kühnen Ingenieurkonstruktion der erste Schritt zur Erhaltung eines Denkmals getan, und zugleich eine einzigartige Landschaft ihren Bewohnern wieder näher gebracht.
Bildrechte: Erik Ahrens
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